Montag, 30. April 2007

Die Brücke

Hattet ihr heute die Brücke? Ich hatte sie nicht. Dafür aber fast alle Personen meines Foyers... Brücke? Wieso haben wir es jetzt über Brücken? Über Brücken? Überbrücken! Richtig!

Morgen ist Feiertag und da diese gesetzliche Freizeitverordnung auf einen Dienstag fällt, wäre es doch schade, wenn man zwischen Wochenende und dem Tag der Arbeit tatsächlich noch schuften müsste. Der Tag wird überbrückt.

Die Personen haben also einen Tag Urlaub genommen, oder wie man hier sagt: Die Brücke gemacht. Wenn meine zu betreuenden Personen nicht zur Arbeit gehen, bleiben sie zuhause. Das bedeutet im Umkehrschluss: Ich habe zu arbeiten! Da kann ich nur froh sein, dass hier keiner ein Viadukt macht -- das ist dann nämlich alles, was über einen Brückentag hinaus geht.

Samstag, 21. April 2007

Kopfwahl

[Anmerkung: Dieser Artikel wurde in abgewandelter Form unter dem Titel "Wähl mich! Nein mich!" am 5. Mai 2007 im zuender, dem Netmagazin der ZEIT, veröffentlicht.]

Claire öffnet einen großen Briefumschlag. Pünktlich zur Wahl des französischen Präsidenten präsentieren sich die zwölf Kandidaten per Werbesendung im Briefkasten. Alle eingetragenen Wähler haben diese politischen Poster in den letzten Tagen erhalten. So auch Claire. Nach und nach entfaltet sie einen potentiellen neuen französischen Präsidenten. Über ihrer Schulter ein neugieriges Gesicht: „Sind das die Kandidaten für die Wahl?“, fragt Amélie.

Claire dreht sich um, der aufgeregten Stimme zu antworten: „Ja, genau. Und weißt du schon, wen du wählen wirst?“

„Ja, also ich schwanke noch zwischen drei Kandidaten: Ségolène Royal, Olivier Besancenot und Philippe de Villiers.“ Claire stutzt einen Moment lang. Royal, Besancenot und de Villiers? Die erste ist Sozialistin, der zweite gehört zur extremen Linken und der andere zur entgegengesetzt extremen Rechten. Amélies Favoriten stammen nicht einmal annähernd aus dem selben politischen Lager. Das muss sie ihr erklären. Auf die Frage nach ihren Kriterien antwortet Amélie: „Also zunächst schau ich mir das Foto des Kandidaten an. Wenn mir sein Gesicht gefällt, dann höre ich mir sein Programm im Radio an und lese in den Zeitungen.“

Amélie steht unter eingeschränkter Vormundschaft und hat somit das Recht, zu wählen. Am Sonntag wird sie wie die meisten eingetragenen Franzosen zur Wahl gehen. Das ist ihr wichtig. Jeden Morgen hört sie im Radio die Nachrichten, in den letzten Wochen vor allem Interviews und andere Beiträge zu den Präsidentschaftswahlen. Da Amélie ein sehr offener und kontaktfreudiger Mensch ist, lässt sie sich jedoch leicht von netten Stimmen und schönen Bildern leiten. Nicht selten übernimmt sie unreflektiert eine Meinung, die sie irgendwo aufgeschnappt hat. Gerade das französische Fernsehen wirkt da wie Wasser auf die Mühlen. So kommt es, dass Amélie sich die Programme der Kandidaten, deren Gesichter ihr nicht sympathisch genug erscheinen, gar nicht erst anhört. Ein zweifelhaftes Kompliment an all die Werbeagenturen dieser Wahlkampagne.

In Claire regen sich in diesem Moment nicht nur ihre demokratisch-liberalen Ideale. Aber ist es eine gute Idee, einer geistig behinderten Person dieses Recht zu gewähren? Selbstverständlich! Denn für die Medienlandschaft kann auch Amélie nichts.

Selbst Claire fällt die Entscheidung nicht sehr leicht. Wie soll Amélie sich da in dieser manipulierenden Informationsflut zu Recht finden?

So schlägt Claire vor, einen Test im Internet zu machen. Auf der Seite monvoteamoir.fr (mon vote à moi – soviel wie „Meine eigene Wahl“) finden sich 35 verschiedene Standpunkte zu politischen Themen. Zu jedem Thema kann der Besucher entweder sein Einverständnis oder sein Ablehnen angeben. Am Ende vergleicht die Internetseite die Daten mit den Wahlprogrammen der Präsidentschaftskandidaten. So kann der Besucher erkennen, mit welchem Politiker er am ehesten übereinstimmt.

Amélie ist sofort sehr angetan von dieser Idee und so setzen sich die beiden vor den Computer. Während Amélie sehr emotional ihre Zustimmung oder ihr Entsetzen über die verschiedenen Thesen kund tut, versucht Claire neutral zu bleiben. Manchmal hat Amélie Fragen. Vor allem in Sachen Finanzpolitik kennt sie sich wenig aus. Claire probiert so objektiv wie möglich zu erklären. Fünfunddreißig Mal klickt der Zeiger auf dem Bildschirm. Am Ende präsentieren sich die Kandidaten aufgereiht in einer Rangliste. Ganz oben: Marie-George Buffet. Die Kandidatin der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF).

Amélie ist erstaunt. Niemals hätte sie sich mit dem politischem Gedankengut dieser Frau auseinander gesetzt. Ihr Gesicht gefiel ihr einfach nicht. Mit einem Mal steht sie auf und verschwindet. Als Claire sie einige Minuten im Wohnzimmer wiederfindet, ist Amélie dabei das Programm von Buffet zu lesen.

Mittwoch, 18. April 2007

Marche du Facteur

Zwei Bänder wehen im Wind. Ein gutes Zeichen. Wir sind auf dem rechten Wege, denn wir folgen dem gelben Band.
Wir wandern auf historischen Pfaden, quasi in den Fußstapfen des Facteur Cheval -- der mit dem Palais Idéal, ihr erinnert euch?

Einmal im Jahr wird in Hauterives der Marche du Facteur veranstaltet. Wandertouren verschiedener Länge werden angeboten, etappenweise Erfrischungen angeboten.

Wir hatten uns für die kleinste Version entschieden: Acht Kilometer. In gelb ausgeschildert. Über weite Felder ziehend, schmale ansteigende Waldpfade kletternd und Dschungelabenteuern entliehene Brücken überquerend -- so zogen wir durch Hauterives und Umgebung.

Wandern kann eine ziemlich lustige Angelegenheit sein mit den Personen. Wenn Lieder angestimmt werden, merke ich schon gar nicht mehr, wie schief eigentlich gesungen oder eher gebrüllt wird. Die Gesichter entgegenkommender Passanten sind jedoch aufschlussreich.

Wir wandern weiter. Manche Personen sind äußerst motiviert, teils zu motiviert und finden sich dann mit einem Mal zu Füßen der anderen wieder. Mit einem Lachen wird derjenige schnell wieder auf die Beine gebracht und wieder eingereiht. Andere wiederum fürchten sich ein wenig seitens eines seicht dahinfließenden Flusses. Dann hilft aber schon ein zur (eher psychologischen) Unterstützung gereichter Arm und es geht weiter. À propos Unterstützung: Francis war auch mit dabei. Jedoch auf Seiten der Organisation, als Parkplatzeinweiser. Eine entsprechende Zeichnung gab es morgens am Früchstückstisch.

Nach zweieinhalb Stunden wurden wir Punkt 12 Uhr vom Glockenschlag des Kirchturms in Hauterives zurück begrüßt. Übrigens: Im Gegensatz zu den von weit her angereisten Touristen war ich nur fünf Minuten später unter der Dusche.

Samstag, 14. April 2007

Zeichensprache

Heute war nichts mit lang ausschlafen. Obwohl Wochenende ist, stand ich bereits um sieben Uhr unter der Dusche. Unsere Praktikantin hatte mich nämlich engagiert, sie in aller Frühe zum Bahnhof zu bringen.

Ich schlich mich also leise aus meinem Zimmer, um meinen Zimmernachbarn Francis nicht zu wecken. Doch als ich unten im Esssaal ankam, sah ich, dass das gar nicht nötig gewesen war. Francis war nämlich schon lange vor mir aus dem Haus gegangen.

Francis hat nie Schreiben oder Lesen gelernt. Seinen Namen malt er aus dem Gedächtnis. Trotzdem teilt er uns immer mit, wo er sich befindet. Er hat seine eigene „Zeichensprache“. Wenn er einen Ausflug unternimmt (er ist der einzige unter den Personen mit einem eigenen Schlüssel für das Foyer und somit sehr selbstständig) holt er eine kleine Tafel hervor und hinterlässt uns eine Nachricht.

Also was meint ihr, wo ist Francis heute?

Montag, 9. April 2007

Rummel

Es ist dunkel heute. Trotz wolkenlosen Himmels und sommerwarmen Sonnenstrahlen gelangt kaum ein Quäntchen Licht in unser Foyer.

Der Grund ist ein großer Laster. Der steht nämlich direkt vor dem Fenster auf dem Bürgersteig. In dem Laster befinden sich viele kleine Spielzeugautos. Geländewagen, Rennautos, Trecker.

Daneben hausgemachte Dauerwürste, Schuhe, Hüte, Taschen und Tokio-Hotel-Fan-Shirts. Dazwischen schlängelt sich eine schwitzende Maße von angeblichen Schnäppchenjägern und anderem Fußvolk. Es ist Ostermarkt in Hauterives. Direkt vor unserer Haustür.

Als ich vorhin vor die Tür trat befand ich mich sofort in einem Stand. Und wurde natürlich auch prompt von potentieller Kundschaft angesprochen. Ich musste die Herren jedoch leider enttäuschen: „Tut mir Leid, ich kenne mich nicht mit Fensterisolation aus. Ich wohne hier nur.“


La foire [Photoalbum]

Donnerstag, 5. April 2007

Fußwaschung

Die Arche ist eine Organisation in katholischer Tradition. Das ist erst einmal nichts Schlimmes. Für einen kleinen nicht praktizierenden Protestanten heißt das aber: Viele viele neue Eindrücke. Vor allem zu Ostern.

Wir sind -- so habe ich erfahren -- in die semaine sainte, also die Karwoche, eingetreten. Die ganze communauté bereitet sich also auf Ostern vor. Und da so eine Karwoche ziemlich viel Programm mit sich bringt und man viel unterwegs ist, haben wir uns erst einmal gründlich die Füße gewaschen.

Der bibelfeste Leser weiß natürlich, dass es sich dabei weniger um Körperhygiene als vielmehr um einen symbolischen Akt handelt. Es ist ein Zeichen des gegenseitigen Respekts und Wertschätzung. In der Arche bekommt die Fußwaschung sogar noch einen weiteren Sinn. Es ist der Moment, an dem die Personen, die sonst die Hilfe von Assistenten erfahren, ihrerseits einen Dienst erweisen. Auch wenn nicht bei allen Personen sicher ist, dass sie den tieferen symbolischen Sinn begreifen, ist es doch eine besondere Erfahrung, von den Personen „gewaschen“ zu werden, denen man sonst selbst beim täglichen Duschen hilft.

Sonntag, 1. April 2007

Wochenendausflug

Wochenenden in der Arche sind ... anders. Normalerweise sind alle Bewohner des Foyers zuhause. Für uns Assistenten bedeutet das: Ständige Präsenz, keine Pause. Es kann Wochenenden geben, da schlaucht das sehr. Da gibt es Geburtstage vorzubereiten, Winterschlussverkauf zu überleben, oder sich mit dem großen Saubermachen zu vergnügen. Aber es gibt auch Wochenenden, da ist nichts Großartiges vorgesehen. Dann wird erst spät gefrühstückt (9 Uhr 30) und alles etwas ruhiger angegangen.

Scheint die Sonne, machen wir nicht selten einen kleinen Ausflug in die Umgebung. Dann kommt es vor, dass es eine der Personen ist, die einen Vorschlag macht: „Ich kenne da eine schöne Umgebung, wo ich mit meinen Freunden immer spazieren gehe“, hört man eine Martine sagen und findet sich eine viertel Stunde später mit allen Leuten im Auto wieder. So führt es uns an schöne Orte und ich lerne Stück für Stück die Umgebung kennen.

Zwar ist die Endstation nicht immer gleich der ursprünglichen Idee, aber zurück gefunden haben wir bisher immer.