Samstag, 21. April 2007

Kopfwahl

[Anmerkung: Dieser Artikel wurde in abgewandelter Form unter dem Titel "Wähl mich! Nein mich!" am 5. Mai 2007 im zuender, dem Netmagazin der ZEIT, veröffentlicht.]

Claire öffnet einen großen Briefumschlag. Pünktlich zur Wahl des französischen Präsidenten präsentieren sich die zwölf Kandidaten per Werbesendung im Briefkasten. Alle eingetragenen Wähler haben diese politischen Poster in den letzten Tagen erhalten. So auch Claire. Nach und nach entfaltet sie einen potentiellen neuen französischen Präsidenten. Über ihrer Schulter ein neugieriges Gesicht: „Sind das die Kandidaten für die Wahl?“, fragt Amélie.

Claire dreht sich um, der aufgeregten Stimme zu antworten: „Ja, genau. Und weißt du schon, wen du wählen wirst?“

„Ja, also ich schwanke noch zwischen drei Kandidaten: Ségolène Royal, Olivier Besancenot und Philippe de Villiers.“ Claire stutzt einen Moment lang. Royal, Besancenot und de Villiers? Die erste ist Sozialistin, der zweite gehört zur extremen Linken und der andere zur entgegengesetzt extremen Rechten. Amélies Favoriten stammen nicht einmal annähernd aus dem selben politischen Lager. Das muss sie ihr erklären. Auf die Frage nach ihren Kriterien antwortet Amélie: „Also zunächst schau ich mir das Foto des Kandidaten an. Wenn mir sein Gesicht gefällt, dann höre ich mir sein Programm im Radio an und lese in den Zeitungen.“

Amélie steht unter eingeschränkter Vormundschaft und hat somit das Recht, zu wählen. Am Sonntag wird sie wie die meisten eingetragenen Franzosen zur Wahl gehen. Das ist ihr wichtig. Jeden Morgen hört sie im Radio die Nachrichten, in den letzten Wochen vor allem Interviews und andere Beiträge zu den Präsidentschaftswahlen. Da Amélie ein sehr offener und kontaktfreudiger Mensch ist, lässt sie sich jedoch leicht von netten Stimmen und schönen Bildern leiten. Nicht selten übernimmt sie unreflektiert eine Meinung, die sie irgendwo aufgeschnappt hat. Gerade das französische Fernsehen wirkt da wie Wasser auf die Mühlen. So kommt es, dass Amélie sich die Programme der Kandidaten, deren Gesichter ihr nicht sympathisch genug erscheinen, gar nicht erst anhört. Ein zweifelhaftes Kompliment an all die Werbeagenturen dieser Wahlkampagne.

In Claire regen sich in diesem Moment nicht nur ihre demokratisch-liberalen Ideale. Aber ist es eine gute Idee, einer geistig behinderten Person dieses Recht zu gewähren? Selbstverständlich! Denn für die Medienlandschaft kann auch Amélie nichts.

Selbst Claire fällt die Entscheidung nicht sehr leicht. Wie soll Amélie sich da in dieser manipulierenden Informationsflut zu Recht finden?

So schlägt Claire vor, einen Test im Internet zu machen. Auf der Seite monvoteamoir.fr (mon vote à moi – soviel wie „Meine eigene Wahl“) finden sich 35 verschiedene Standpunkte zu politischen Themen. Zu jedem Thema kann der Besucher entweder sein Einverständnis oder sein Ablehnen angeben. Am Ende vergleicht die Internetseite die Daten mit den Wahlprogrammen der Präsidentschaftskandidaten. So kann der Besucher erkennen, mit welchem Politiker er am ehesten übereinstimmt.

Amélie ist sofort sehr angetan von dieser Idee und so setzen sich die beiden vor den Computer. Während Amélie sehr emotional ihre Zustimmung oder ihr Entsetzen über die verschiedenen Thesen kund tut, versucht Claire neutral zu bleiben. Manchmal hat Amélie Fragen. Vor allem in Sachen Finanzpolitik kennt sie sich wenig aus. Claire probiert so objektiv wie möglich zu erklären. Fünfunddreißig Mal klickt der Zeiger auf dem Bildschirm. Am Ende präsentieren sich die Kandidaten aufgereiht in einer Rangliste. Ganz oben: Marie-George Buffet. Die Kandidatin der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF).

Amélie ist erstaunt. Niemals hätte sie sich mit dem politischem Gedankengut dieser Frau auseinander gesetzt. Ihr Gesicht gefiel ihr einfach nicht. Mit einem Mal steht sie auf und verschwindet. Als Claire sie einige Minuten im Wohnzimmer wiederfindet, ist Amélie dabei das Programm von Buffet zu lesen.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

wer ist denn amélie??

Kersten hat gesagt…

Jemand, den Du kennst, jedoch anonymisiert. Grund liegt darin, dass ich den Artikel bei zuender.zeit.de veröffentlicht habe.